TÜBINGER ARBEITSPAPIERE ZUR INTERNATIONALEN POLITIK UND FRIEDENSFORSCHUNG


Nr. 28

Volker Rittberger / Frank Schimmelfennig

Deutsche Außenpolitik nach der Vereinigung.

Realistische Prognosen auf dem Prüfstand.

- Ein Tübinger Projekt -


Copyright: V. Rittberger, F. Schimmelfennig, Tübingen 1997

ISBN 3-927604-21-6

Redaktion: Henning Boekle, Andreas Hasenclever, Stefan Stampfer

WWW-Layout: Jürgen Plieninger


Inhaltsverzeichnis

1. Zusammenfassung
2. Stand der Forschung, eigene Vorarbeiten
2.1. Stand der Forschung
2.1.1. Stränge der neueren Forschung zur deutschen Außenpolitik
2.1.2. Deutschland nach 1990: mehr Macht?
2.1.3. Deutsche Außenpolitik nach 1990: mehr Machtpolitik?
2.1.4. Forschungsdefizite
2.2. Eigene Vorarbeiten
2.2.1. Analyse deutscher Außenpolitik
2.2.2. Vergleichende Außenpolitikanalyse
3. Ziele und Arbeitsprogramm
3.1. Ziele
3.1.1. Realismus
3.1.2. Institutionalismus
3.1.3. Liberalismus
3.2. Arbeitsprogramm
3.2.1. Methode und Kriterien der Fallauswahl
3.2.2. Geplante Fallstudien
3.2.2.1. Fallstudie "NATO-Politik"
3.2.2.2. Fallstudie "EG/EU-Verfassungspolitik"
3.2.2.3. Fallstudie "Außenhandelspolitik"
3.2.2.4. Fallstudie "Entwicklungshilfepolitik"
3.2.2.5. Fallstudie "Menschenrechtspolitik"
3.2.3. Arbeitsprogramm für die Fallstudien
Literatur

1. Zusammenfassung

Gegenstand des Projekts ist die Analyse und theoriegeleitete Erklärung der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland nach der Vereinigung. Es sucht die Frage zu beantworten, ob sich die deutsche Außenpolitik nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und nach der Vereinigung gewandelt hat und ob die aus der realistischen Theorie der internationalen Beziehungen abgeleitete Prognose zutrifft, daß Deutschland eine stärker machtorientierte Politik betreibt. Dazu sollen fünf Sachgebiete der deutschen Außenpolitik vor und nach der Zäsur von 1990 vergleichend untersucht werden: die Sicherheitspolitik in der NATO, die EG/EU-Verfassungspolitik, die Außenhandelspolitik im GATT, die Entwicklungshilfepolitik und die Menschenrechtspolitik. (Note 1)


2. Stand der Forschung, eigene Vorarbeiten

2.1. Stand der Forschung

Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und mit der deutschen Vereinigung ist für die Forschung zur deutschen Außenpolitik die Frage in den Mittelpunkt gerückt, wie sich die Außenpolitik des vereinigten Deutschland zur Außenpolitik der alten Bundesrepublik verhält. Auch unser Erkenntnisinteresse läßt sich in der Frage bündeln, ob die deutsche Außenpolitik nach der Vereinigung von Kontinuität oder Wandel gekennzeichnet ist. In unserem Überblick über den Stand der Forschung unterscheiden wir drei Stränge der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dieser Frage: einen präskriptiven, einen diskursanalytischen und einen verhaltensanalytischen. In der Literatur herrschen bisher die präskriptiv geführte Debatte, Diskursanalysen sowie essayistische Texte über Kontinuität und Wandel in der deutschen Außenpolitik vor. Es mangelt hingegen an theoriegeleiteter und systematisch vergleichender Analyse des außenpolitischen Verhaltens der Bundesrepublik. Das Projekt soll dazu beitragen, diesem Mangel abzuhelfen.


2.1.1.Stränge der neueren Forschung zur deutschen Außenpolitik

(1) Die präskriptiv geführte Debatte über die Zukunft der deutschen Außenpolitik dominiert die neuere einschlägige Literatur. (Note 2) Sie dreht sich um die Frage, welche Interessen das vereinigte Deutschland in der neuen weltpolitischen Situation der neunziger Jahre verfolgen und wie es sich verhalten soll. Die präskriptive Debatte hat weniger den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn als vielmehr die öffentliche Meinungsbildung zum Ziel und ist daher für das geplante Forschungsprojekt nicht maßgeblich. Allerdings beruht auch diese Debatte auf Annahmen über die bisherige Qualität der deutschen Außenpolitik, die veränderten außenpolitischen Rahmenbedingungen und deren Einflüsse auf das außenpolitische Verhalten.

(2) Der Gegenstand der Diskursanalysen ist der allgemeine politische und gesellschaftliche Diskurs (einschließlich der präskriptiv ausgerichteten Literatur) zur deutschen Außenpolitik. (Note 3) Diese Untersuchungen weisen darauf hin, daß neue Schlüsselbegriffe wie z.B. "Normalität" und "Verantwortung" die außenpolitische Debatte seit der Vereinigung prägen. Sie verzeichnen somit einen Wandel, dessen Bedeutung für die Außenpolitik jedoch im unklaren bleibt, da nicht thematisiert wird, in welcher Beziehung die öffentliche Debatte zum tatsächlichen außenpolitischen Verhalten der Bundesrepublik steht.

(3) Den dritten Strang in der neueren Literatur bilden Analysen des außenpolitischen Verhaltens der "neuen" Bundesrepublik. Da dies auch der Gegenstand unseres Projektantrags ist, wird der Schwerpunkt des Literaturberichts im folgenden auf diesem Forschungsstrang liegen. Die verhaltensanalytische Debatte dreht sich in erster Linie um die Frage, ob die Jahre um 1990 eine Zäsur für die deutsche Außenpolitik bedeuten oder nicht. Zum einen wird diskutiert, ob sich die Position und der Status Deutschlands in der internationalen Politik verändert haben, zugespitzt: Ist Deutschland "mächtiger" geworden? Zum anderen ist umstritten, ob das außenpolitische Verhalten Deutschlands sich qualitativ gewandelt hat: Gibt es eine neue deutsche Außenpolitik oder ist eine solche zu erwarten? Die Beiträge zu dieser Debatte lassen sich danach klassifizieren, von welcher Denk- bzw. Theorieschule der Disziplin "Internationale Beziehungen" sie inspiriert sind.


2.1.2.Deutschland nach 1990: mehr Macht?

Die Autoren, die "1990" (Note 4) als Zäsur verstehen (Note: 5) , greifen in ihrer Begründung vor allem auf Theoreme der realistischen Denkschule der Internationalen Beziehungen zurück. Nach realistischer Auffassung haben die Vereinigung und der weltpolitische Umbruch, dessen Teil sie war, für die Bundesrepublik den Effekt eines Machtzuwachses, der sich außenpo- litisch in einem Streben nach mehr Unabhängigkeit und Machtausübung auswirken werde. Für Vertreter des US-amerikanischen Realismus ist der relative Machtzuwachs Deutschlands eine offensichtliche Tatsache, die keiner differenzierten empirischen Untermauerung bedarf, geschweige denn problematisiert werden müßte (vgl. Mearsheimer 1990; Layne 1993: 37f.; Waltz 1993: 62ff.). Von den deutschen Autoren werden in der Regel mehrere Machtfaktoren unterschieden. Der Zuwachs an Territorium und Bevölkerung wird Hacke (1993: 464) zufolge allenfalls langfristig wirksam werden. Vielmehr wird für die gestiegene Macht auf die wiedererlangte Souveränität (z.B. Schwarz 1991), die gewachsene ökonomische Potenz (z.B. Haftendorn 1994: 130) und die erhöhte Attraktivität des politischen Systems (vor allem in Mittel- und Osteuropa) verwiesen (z.B. Garton Ash 1994; Markovits/Reich 1992).

Verbreitung hat auch das ebenfalls realistische Theorem gefunden, daß die geopolitische Position eines Staates im internationalen System dessen Außenpolitik bestimmt. In bezug auf die Außenpolitik Deutschlands wird diese These unter dem Stichwort "Neue Mittellage" diskutiert (Note 6) , die nach realistischer Auffassung eine Neubestimmung der außenpolitischen Interessen erwarten lasse.

Vertreter anderer Denkschulen haben die vom Realismus inspirierte Außenpolitikforschung stets wegen ihrer Überschätzung der internationalen Machtverteilung kritisiert. Aus institutionalistischer Sicht wird die stabile Einbindung Deutschlands in internationale Organisationen, vor allem die Europäische Gemeinschaft und die NATO, als ein Faktor der internationalen Politik angeführt, der individuelles Machtstreben als außenpolitische Motivation wirkungsvoll relativiert. (Note 7) Für die liberale Denkschule sind innerstaatliche und zwischengesellschaftliche, nicht so sehr zwischenstaatliche Strukturen und Prozesse, für die Erklärung von Außenpolitik von Bedeutung. Aus diesem Grund warnen Autoren, die sich dieser Denkschule zuordnen lassen (Note 8) , vor einer Überbewertung der Diskontinuitäten. Gleichwohl behaupten sie nicht unbedingt, daß die Außenpolitik der Bundesrepublik von neuen Herausforderungen völlig unberührt sei. Was eine Veränderung deutscher Außenpolitik jedoch erwarten lasse, sei nicht ein plötzlicher Machtzuwachs, sondern eine Anpassung an die Prozesse der "Vergesellschaftung" und der "ökonomisierung" der Weltpolitik (Czempiel 1993), die seit mehreren Jahrzehnten stattfänden und die aufgrund der Transformationsprozesse in Mittel- und Osteuropa für Deutschland nun besonders bedeutsam geworden seien. Maull sieht die Ursachen für die Umwälzungen von 1990 "in wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Wandlungsprozessen, die aus der Dynamik technologischer Innovation gespeist werden" (1992: 259). Aus dieser Perspektive muß sich Deutschland nicht aufgrund eines Machtzuwachses neu in das internationale Staatensystem einpassen. "1990" markiere vielmehr "das Ende der nationalstaatlichen Welt" (Maull 1992: 259), an das sich Deutschland wie andere Staaten auch anzupassen habe.


2.1.3.Deutsche Außenpolitik nach 1990: mehr Machtpolitik?

zh

Aus der unterschiedlichen Einschätzung der aktuellen weltpolitischen Entwicklung ergeben sich verschiedene Erwartungen an die Außenpolitik der Bundesrepublik. Während Realisten "1990" als Zäsur werten und deshalb einen machtpolitischen Wandel in der bundesdeutschen Außenpolitk erwarten, rechnen Institutionalisten und Liberale entweder mit einer grundsätzlichen Kontinuität über die Vereinigung hinweg oder mit Veränderungen, die dem von ihnen analysierten langfristigen Strukturwandel im internationalen System folgen und vom Ende des Ost-West-Konflikts allenfalls verstärkt, nicht aber erzeugt wurden.

Für die (im Unterschied zu dem Gros deutscher Autoren) stärker theoretisch orientierten US-amerikanischen Realisten ergibt sich die Erwartung einer mehr machtpolitisch profilierten, auf unilaterale Interessendurchsetzung ausgerichteten deutschen Außenpolitik in erster Linie deduktiv aus den Grundannahmen der realistischen Theorie (vgl. Mearsheimer 1990; Waltz 1993). Bei empirischer Betrachtung konstatieren Realisten weiterhin ein hohes Maß an multilateraler Koordination und damit an Kontinuität in der deutschen Außenpolitik. Allerdings verweisen sie auf eine Vielzahl von einzelnen außenpolitischen Entscheidungen und Forderungen, die sie - der realistischen Erwartungshaltung entsprechend - als erste Anzeichen einer Neuorientierung der deutschen Außenpolitik interpretieren und als zukunftsweisend hervorheben. Dazu zählen in der Regel die Anerkennungspolitik gegenüber Slowenien und Kroatien sowie die Forderungen nach einem ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und nach Anerkennung des Deutschen als offizielle Arbeitssprache der Europäischen Gemeinschaft (vgl. Kaiser 1993; Layne 1993: 37f.; Schöllgen 1993: 28). (Note 9)

Als exemplarisch für die "realistische" Erwartungshaltung sei auf die Abhandlungen von Schwarz (1994) und Hacke (1993) hingewiesen. Nach Schwarz hat die Bundesrepublik bislang "Kleinstaatentugenden" praktiziert, das heißt die eigenen Wünsche überhaupt nur im wohlabgestimmten Konzert mit anderen vorgebracht. Deutschland "möchte zwar weiterhin Kleinstaatentugenden praktizieren. Die Eigenart des europäischen Staatensystems ist aber so beschaffen, daß ihm dies gerade dann untersagt ist, wenn es seiner politischen Verantwortung gerecht werden will" (Schwarz 1994: 10). Laut Schwarz wächst Deutschland nolens volens in die Rolle einer "Zentralmacht Europas" hinein.

Hacke beobachtet, daß die Bundesrepublik zum ersten Mal ihre Interessen in der Manier anderer Nationalstaaten bestimmt habe, als sie die Stabilität Osteuropas als außenpolitisches Ziel formulierte (Hacke 467). Hacke versteht dies als Übernahme gesamteuropäischer Verantwortung und sieht darin die künftige Rolle Deutschlands in Europa. Er illustriert die neue Rolle Deutschlands am Beispiel seiner Politik in der Jugoslawien-Krise und behauptet, daß die europäische Jugoslawien-Diplomatie letztlich daran gescheitert sei, daß die Bundesrepublik von ihrer anfänglichen entschlossenen Politik wieder abgewichen sei und ihre Interessen nicht "machtpolitisch unterfüttert" habe (Hacke 1993: 495). Für die Zukunft erwartet er jedoch eine stärker am nationalen Interesse ausgerichtete Zielbestimmung deutscher Außenpolitik und eine machtbewußtere Durchsetzung ihrer Ziele.

Demgegenüber zeichnen sich die Analysen von Autoren, die der institutionalistischen oder liberalen Denkschule zuzuordnen sind, weniger durch eine andere empirische Darstellung deutscher Außenpolitik als durch eine andere Akzentsetzung aus: die Weiterführung multilateral koordinierter Außenpolitik wird als signifikant hervorgehoben, während die bisherigen Fälle von Unilateralismus durch spezifische innenpolitische Ausnahmekonstellationen erklärt werden. Wagner (1992: 38) und Müller (1992) beispielsweise behaupten, daß die deutsche Jugoslawienpolitik nicht durch strategische Motive, sondern durch innenpolitischen Druck erklärt werden müsse.


2.1.4.Forschungsdefizite

Zusammenfassend lassen sich die folgenden Defizite in der neueren Literatur über die deutsche Außenpolitik festhalten: Diskursanalytische und präskriptive Studien über die deutsche Außenpolitik nach 1990 sind gegenüber außenpolitischen Verhaltensanalysen deutlich Überrepräsentiert; die präskriptive Orientierung ist sogar in vielen Verhaltensanalysen unübersehbar. Hingegen fehlt es an einer theoriegeleiteten, systematisch vergleichenden Beschreibung und Erklärung der Entwicklung der deutschen Außenpolitik über die weltpolitische Zäsur von 1990 hinweg. Theoriegeleitete Analysen bleiben in der Regel bei der Formulierung allgemeiner Verhaltenserwartungen und der Untersuchung illustrativer Einzelfälle stehen. Eine aussagekräftige empirische Überprüfung dieser Erwartungen fehlt. Empirische Fallstudien sind hingegen entweder stark auf einzelne hervorstechende Ereignisse wie die deutsche Jugoslawien-Politik konzentriert, deren Verallgemeinerbarkeit fragwürdig ist, oder bleiben im wesentlichen atheoretisch.

Die in der Diskussion über die deutsche Außenpolitik aufgeworfenen Fragen nach Kontinuität oder Wandel und nach der Erklärung für die Entwicklung der deutschen Außenpolitik nach 1990 konnten auf diese Weise nicht zufriedenstellend beantwortet werden. Ein Grund dafür ist gewiß, daß seit dem Umbruch von 1990 erst wenige Jahre vergangen sind. Verschiedene Autoren haben angeführt, daß die deutsche Außenpolitik sich noch in einer Übergangsphase befinde, die einen empirisch fundierten Befund nicht zulasse. (Note 10) Diese Beschränkung verliert jedoch zunehmend an Gewicht. Bis zum Ende der Laufzeit des Projekts wird nahezu ein Jahrzehnt seit der Vereinigung verstrichen sein. In diesem Zeitraum müßte ein kausaler Einfluß des internationalen Umbruchs auf die deutsche Außenpolitik zu beobachten sein, wenn es ihn denn gegeben hat. (Note 11) Der Grund dafür, daß gehaltvolle Befunde zur Außenpolitik des vereinigten Deutschland fehlen, muß vielmehr in den theoretischen und methodischen Defiziten der bisherigen Forschung gesucht werden.


2.2. Eigene Vorarbeiten

Der Antragsteller und die von ihm geleitete Forschungsgruppe verfügen über langjährige Erfahrungen in der Analyse deutscher Außenpolitik und in der theoriegeleiteten vergleichenden Außenpolitikanalyse. In beiden Bereichen liegen Vorarbeiten vor, die für das geplante Projekt nutzbar gemacht werden können.


2.2.1.Analyse deutscher Außenpolitik

Das Hauptaugenmerk bei der Analyse der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland vor der Vereinigung lag auf der Identifikation ihrer Bestimmungsfaktoren und Grundmuster (Rittberger 1987). Dabei hat es sich als gewinnbringend erwiesen, nach Politikfeldern einerseits ("Sicherheit", "Wohlfahrt", "Herrschaft") und Beziehungsfeldern andererseits ("West", "Ost", "Süd", "global") zu differenzieren (Rittberger 1990; 1992a). Insgesamt konnte die "alte" Bundesrepublik als ein "international kooperierender demokratischer Handelsstaat" charakterisiert werden (Rittberger 1990: 19). Die auch schon vor der Vereinigung in der Literatur aufgestellte Behauptung, die Bundesrepublik sei eine westeuropäische Hegemonialmacht oder gar eine "Weltmacht wider Willen", wurde, gestützt auf vielfältige Beobachtungen, zurückgewiesen.

Der Antragsteller und die von ihm geleitete Forschungsgruppe haben sich bereits frühzeitig an der Diskussion über den Status und die Außenpolitik des wiedervereinigten Deutschland beteiligt (Rittberger 1992a, 1992b; Wolf 1991). In diesen Beiträgen werden sowohl die vor die Zäsur von "1990" zurückreichende Tradition dieser Diskussion (z.B. Rittberger 1992b: 207ff.) als auch die Frage eines deutschen Machtzuwachses und einer "neuen" deutschen Außenpolitik behandelt. Der allgemeine Tenor dieser Beiträge läßt sich als skeptisch gegenüber der vorschnellen Behauptung eines Schwenks zu einer stärker machtstaatlich orientierten Politik charakterisieren.

Unter anderem wird darauf hingewiesen, daß sich die wirtschaftlichen Ressourcen Deutschlands absolut gesehen (BSP gesamt) durch den DDR-Beitritt nur um ca. 10 % gesteigert (Rittberger 1992a: 251) und bei qualifizierter Betrachtung (BSP/Kopf, Leistungsbilanz) sogar eher verringert haben (Rittberger 1992b: 213f.). Ebenso sei die militärische Stärke Deutschlands aufgrund des im Zwei-plus-Vier-Vertrag vereinbarten Abbaus der Gesamttruppenstärke eher gesunken (Wolf 1991: 257; Rittberger 1992b: 211f.). Eine Steigerung deutscher Macht im traditionellen, auf materielle Ressourcen bezogenen Sinn sei daher nicht festzustellen, wohl aber ein den Veränderungen der internationalen Umwelt geschuldeter Gewinn von Handlungsautonomie (Rittberger 1992a: 257).

Auch die Behauptung eines machtpolitisch orientierten Wandels der deutschen Außenpolitik wird zurückhaltend beurteilt. Sowohl in der Frage der diplomatischen Anerkennung der Nachfolgestaaten Jugoslawiens als auch in der Frage der europäischen Währungsintegration betont Rittberger (1992b: 216ff.) gegenüber den Thesen von einem deutschen Alleingang oder einer deutschen Hegemonialpolitik die Kontinuität einer auf Abstimmung mit den westlichen Partnern und auf die fortschreitende westeuropäische Integration hin orientierten deutschen Politik.

Hierfür wird die institutionelle Kontinuität deutscher Außenpolitik als ein Hauptgrund angesehen. Im Innern äußert sie sich im Beitritt der ehemaligen DDR zur Bundesrepublik, deren Staatsbezeichnung, -symbole und -institutionen ebenso ungebrochen fortwirken wie ihre Verfassung. Für den äußeren Kontext wird vor allem auf den Verbleib der Bundesrepublik in NATO und EG/EU verwiesen. Auf dieser Basis wird eine weitgehende Fortwirkung der Grundorientierungen deutscher Außenpolitik identifiziert und prognostiziert.

Die bisherigen Arbeiten des Antragstellers und seiner Arbeitsgruppe basieren damit in erster Linie auf liberalen und institutionalistischen Analyseansätzen. Es fehlt ihnen jedoch ebenfalls an den oben angemahnten theoriegeleiteten und auf systematisch vergleichenden Fallstudien basierten Analysen zum Wandel deutscher Außenpolitik. Vielmehr haben sie sich auf die Außenpolitik der alten Bundesrepublik konzentriert oder sind zu einem frühen Zeitpunkt nach der Vereinigung verfaßt worden und besitzen, soweit sie sich auf die Außenpolitik des vereinten Deutschland beziehen, vorwiegend essayistischen Charakter.


2.2.2.Vergleichende Außenpolitikanalyse

Arbeiten zur theoriegeleiteten, vergleichenden Außenpolitikanalyse haben der Antragsteller und die von ihm geleitete Forschungsgruppe in erster Linie im Rahmen des von 1991 bis 1995 durchgeführten und von der DFG geförderten Projekts über die "UNESCO-Krise" erstellt (Rittberger 1995). Das Ziel dieses Projekts war es, die stark divergierende Politik der USA, der Sowjetunion, Frankreichs und der Bundesrepublik Deutschland in der UNESCO während des Konflikts über die "Neue Weltinformations- und Kommunikationsordnung" zwischen 1978 und 1987 zu erklären. Dazu wurden Erklärungsfaktoren aus einer Vielzahl von theoretischen Ansätzen in ein kohärentes Analysemodell integriert und empirisch geprüft. Von vorrangiger Bedeutung war die Frage, ob die außenpolitische Varianz eher systemisch, durch die unterschiedliche Machtposition der untersuchten Staaten, oder subsystemisch, durch die unterschiedlichen Strukturen ihrer gesellschaftlichen und politischen Ordnung, zu erklären ist. Außerdem wurde geprüft, ob die Außenpolitik der vier Industrieländer von ihren politikfeldspezifischen Sachinteressen geleitet wird oder vielmehr Ausdruck eines etablierten Politikstils ist und ob und in welcher Weise sie sich im Untersuchungszeitraum gewandelt hat.

Das Ergebnis des Projekts fiel nicht eindeutig zugunsten realistischer oder liberaler Erklärungsansätze aus. Sowohl die Position eines Staates in der allgemeinen Machtstruktur als auch seine ordnungspolitischen Präferenzen, wie sie z.B. in den unterschiedlichen Mediensystemen der untersuchten Länder zum Ausdruck kommen, ergaben eine sehr gute strukturelle Erklärung für die Varianz in den außenpolitischen Interessen und im außenpolitischen Verhalten. Für die genaue Bestimmung der Konfliktposition und des Konfliktverhaltens mußte jedoch zusätzlich die wechselnde parteipolitische Zusammensetzung der Regierungen hinzugezogen werden - ein subsystemischer Faktor, dem zwar die liberale, nicht aber die realistische Theorie eine Bedeutung zumißt.

Auf diese konzeptuellen und theoretischen Vorarbeiten kann angesichts der Zielsetzung des geplanten Projekts, in einer vergleichenden Analyse Wandel bzw. Kontinuität in der deutschen Außenpolitik zu bestimmen und zu erklären, zurückgegriffen werden - zumal die Kontroverse zwischen Realismus und Liberalismus (sowie Institutionalismus) auch den unterschiedlichen Einschätzungen der deutschen Außenpolitik nach der Vereinigung zugrundeliegt, die in dem hier beantragten Forschungsprojekt geprüft werden sollen. Neu ist allerdings, daß nun ein diachroner Vergleich der Außenpolitik eines Landes in verschiedenen Teilbereichen im Vordergrund stehen wird, während für das UNESCO-Projekt der synchrone Vergleich der Außenpolitik mehrerer Länder in einem eng definierten Kontext gegenüber dem Wandel der Außenpolitik dieser Länder vorrangig war.


3. Ziele und Arbeitsprogramm

3.1. Ziele

Das zentrale Ziel des Forschungsvorhabens ist es, dem von uns identifizierten Mangel an theoriegeleiteten, empirisch-analytischen Untersuchungen zur deutschen Außenpolitik nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes abzuhelfen. Es soll
(1) die erkenntnisleitenden Fragen nach den Bestimmungsfaktoren von Kontinuität und/oder Wandel in der deutschen Außenpolitik, die in der Diskussion über die neue deutsche Außenpolitik aufgeworfen wurden, aufgreifen und beantworten;
(2) die in der Literatur zugrundegelegten Annahmen über außenpolitischen Wandel auf die einschlägigen Theorien der Internationalen Beziehungen zurückführen und als testbare Prognosen formulieren;
(3) die Entwicklung der bundesdeutschen Außenpolitik in ausgewählten Teilbereichen von Anfang der 1980er Jahre bis zur Gegenwart (Ende der 1990er Jahre) analysieren und damit sowohl einen systematischen Vorher-Nachher-Vergleich als auch einen Vergleich zwischen Teilbereichen der Außenpolitik ermöglichen; und schließlich
(4) auf der Basis dieser Fallstudien zu einer empirisch tragfähigen Bewertung der realistischen Prognosen über die Entwicklung der deutschen Außenpolitik kommen.

Wie bereits unter "Stand der Forschung" angesprochen, lassen sich die Erwartungen hinsichtlich der deutschen Außenpolitik nach 1990 verschiedenen Denkschulen der Internationalen Beziehungen zuordnen. Wir wollen daher den Realismus, den Institutionalismus und den Liberalismus daraufhin untersuchen, welche Faktoren aus ihrer Sicht für die Kontinuität oder den Wandel von Außenpolitik ausschlaggebend sind und welche Prognosen sich daraus für die deutsche Außenpolitik ableiten lassen.


3.1.1.Realismus

(Note 12)

Die im öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs dominierende Argumentation, daß Deutschland aufgrund der Vereinigung und der strukturellen Veränderungen der Weltpolitik an Macht gewonnen habe und eine machtpolitisch profilierte Anpassung seiner Außenpolitik vornehmen werde, ist eindeutig von der realistischen Denkschule inspiriert. (Note 13) Die für die Außenpolitikanalyse zentralen Annahmen des Realismus lauten: Staaten sind nach außen einheitlich auftretende und zweckrational handelnde Akteure; die Anarchie und die Machtverteilung zwischen den Staaten sind die wesentlichen Strukturmerkmale des internationalen Systems; unter den Bedingungen der Anarchie ist die Sicherung der staatlichen Existenz und Autonomie das vorrangige Ziel der Staaten; ihr wichtigstes Mittel zur Erreichung dieses Ziels ist ihre (relative) Macht, die gegenüber den konkurrierenden Staaten zumindest erhalten werden muß (defensiver Positionalismus), möglichst aber gesteigert werden sollte (offensiver Positionalismus). (Note 14)

Verändert sich die Machtposition eines Staates durch einen Machtgewinn, ändert sich aus realistischer Sicht auch dessen außenpolitisches Verhalten entsprechend seinen neuen Handlungsmöglichkeiten. Er ist besser in der Lage, seine Interessen in der Staatenwelt durchzusetzen, kann sein Aktionsfeld und seinen Einfluß ausdehnen und muß dabei weniger Rücksicht auf andere Staaten nehmen (Waltz 1979: 194; ders. 1986: 332). Ein Machtzuwachs führt dazu, daß es einem Staat als kostengünstig erscheint, eine Veränderung des internationalen Status quo voranzutreiben, die seinem Machtpotential entspricht und es ihm besser erlaubt, seine Ziele zu verwirklichen (Gilpin 1981: 50ff.).

Nach Waltz (1993: 66) ist eine solche Entwicklung für die aufsteigende Großmacht Deutschland zu erwarten. Wir akzeptieren die allgemeine Diagnose von Waltz und anderen Neorealisten, daß sich die Machtposition Deutschlands im internationalen System verbessert hat. Auch wenn man die gestiegene Bevölkerungszahl, die Zunahme des Territoriums oder des Sozialprodukts allein für nicht hinreichend aussagekräftig hält, um daraus ein Wachstum der deutschen Machtressourcen abzuleiten, so scheint zumindest die Annahme, daß sich die externen Handlungsrestriktionen der Bundesrepublik - vor allem die Bedrohung durch den Warschauer Pakt, aber auch die Beschränkungen der Souveränität aufgrund der Vier-Mächte-Verantwortung - deutlich verringert haben, plausibel genug zu sein, um von einer Zunahme der allgemeinen Macht ("overall power") Deutschlands auszugehen. (Note 15) Keinen Sinn macht es, zusätzliche Machtkategorien wie "Zivilmacht" (Maull) in eine realistische Konzeptualisierung der Macht Deutschlands im internationalen System vor und nach der Vereinigung einzubeziehen. Solche immateriellen und subsystemisch deduziblen Machtkategorien sind eindeutig nicht dem Kontext der realistischen Theorie, sondern vielmehr den mit dieser konkurrierenden theoretischen Ansätzen verhaftet; sie werden daher nicht in die Formulierung realistischer Prognosen, sondern in die Identitifaktion der aus den mit dem Realismus konkurrierenden Theorien der internationalen Beziehungen ableitbaren Kontrollvariablen einfließen. (Note 16)

Wir unterscheiden im folgenden zwei realistische Verhaltensannahmen , die der Autonomie- und die der Einflußmaximierung. Beide Verhaltensweisen sind in der Denkschule des Realismus verankerte allgemeine Ausprägungen der "Machtpolitik", der abhängigen Variable in unserer Untersuchung, führen jedoch zu unterschiedlichen außenpolitischen Prognosen. Die Annahme der Autonomiemaximierung wird am klarsten im strukturtheoretischen (Neo-)Realismus von Waltz vertreten. Die Annahme der Einflußmaximierung ist hingegen besser mit dem "alten" Realismus und mit weniger rigiden Varianten der zeitgenössischen realistischen Theorie in Einklang zu bringen.

(1) Der Annahme der Autonomiemaximierung gemäß müßte aus dem Machtgewinn Deutschlands auf eine stärker unilaterale, auf Unabhängigkeit orientierte Außenpolitik geschlossen werden können. Dies gilt insbesondere für den von den Realisten so genannten Bereich der "high politics", also vor allem die Sicherheitspolitik. Da die alte Bundesrepublik sich in ihrer 40-jährigen Geschichte auf vielfältige Weise in politische Institutionen eingebunden hat, wäre aus realistischer Sicht zu erwarten, daß das größere und von vielen Handlungsrestriktionen befreite Deutschland nunmehr versucht, sich allmählich aus diesem dichten, seine Handlungsfreiheit beschränkenden Beziehungsgeflecht wieder herauszulösen. Die Prognose des autonomieorientierten Realismus für die deutsche Außenpolitik lautet also:

Prognose 1: Da Deutschland einen Zuwachs an Macht zu verzeichnen hat, wird es eine verstärkt unilaterale, auf Unabhängigkeit orientierte Außenpolitik betreiben und versuchen, sich nach und nach aus den Bindungen internationaler Institutionen zu lösen.

(2) Unter die realistische Denkschule läßt sich aber auch eine andere Argumentation subsumieren, die den Schwerpunkt außenpolitischer Zielsetzung weniger in der Autonomiemaximierung als in der Einflußmaximierung sieht. Dieser Argumentation zufolge streben Staaten primär danach, einen möglichst großen Einfluß auf die (Kollektiv-)Entscheidungen in der internationalen Politik zu gewinnen, mithin die eigenen Interessen effektiver durchzusetzen. Der Unterschied zur vorherigen Argumentation ergibt sich daraus, daß hier die Einbindung in Institutionen weniger unter dem Gesichtspunkt der Autonomiebeschränkung gesehen wird als vielmehr unter dem der effektiveren und effizienteren Durchsetzung eigener Interessen.

Im realistischen Theoriegebäude tauchte dieser Gedanke schon in der Theorie der hegemonialen Stabilität auf, nach der Institutionen nur dann errichtet und erhalten werden, sofern ein Hegemon fähig und willens ist, deren Kosten zumindest überproportional zu tragen (vgl. Kindleberger 1981; Keohane 1984). Der Anreiz für den Hegemon besteht darin, die Institution im Rahmen seiner Weltordnungspolitik zu instrumentalisieren, d.h. mit ihrer Hilfe seinen politischen Einfluß ohne den Einfluß physischer Machtmittel zur Geltung zu bringen und dabei die eigenen Gewinne zu steigern. Wäre Deutschland also der regionale Hegemonieaspirant in Europa, als der es oft gesehen wird, könnte es durchaus in seinem Interesse liegen, die europäischen Institutionen zu dominieren, anstatt sie zu verlassen. In den neuesten realistischen Arbeiten zur Europäischen Union kommt ein ähnlicher Gedanke in der sogenannten voice-opportunity-These (Grieco 1995) zum Ausdruck. Ihr zufolge lassen sich Staaten dann auf institutionelle Bindungen ein, wenn sie dadurch größere Mitsprachemöglichkeiten bei politischen Entscheidungen gewinnen können als außerhalb der Institution. Zwar hat Grieco diese These auf die kleineren EU-Mitgliedstaaten zugeschnitten, doch ließe sich mit der gleichen Logik auch das Verbleiben Deutschlands in der EU plausibel machen.

Dennoch hätte der Machtzuwachs aus realistischer Sicht Konsequenzen. Da es Deutschland nach dieser Auffassung primär um einen größtmöglichen Einfluß gehen muß, würde sich die deutsche Außenpolitik vor dem Hintergrund des eigenen Machtzuwachses vornehmlich darauf konzentrieren, die eigenen Einflußchancen innerhalb der (regionalen und globalen) multilateralen Institutionen zu verbessern. Die Einflußmaximierung kann bei Konstanz der institutionellen Rahmenbedingungen stattfinden oder aber durch die Veränderung der institutionellen Regeln erfolgen. Der einflußorientierte Realismus prognostiziert daher für die deutsche Außenpolitik:

Prognose 2: Da Deutschland einen Zuwachs an Macht zu verzeichnen hat, wird es versuchen, seinen Einfluß in internationalen Institutionen zu erhöhen und sie stärker für die Durchsetzung seiner eigenen Interessen zu instrumentalisieren.

Die Gemeinsamkeit beider realistischer Prognosen besteht darin, daß sie bei einer gestärkten Machtposition eines Staates auch einen Wandel zugunsten von mehr Machtpolitik (in den beiden genannten Varianten) erwarten lassen. Ihre Unterschiede liegen darin, daß die Machtpolitik sich im einen Fall im Streben nach Unabhängigkeit von internationalen Institutionen, im anderen Fall im Streben nach Einflußgewinn in internationalen Institutionen äußert. Diese Prognosen sollen durch das Forschungsprojekt geprüft werden.

Ein zentrales Problem bei der Prüfung theoriegeleiteter Verhaltensprognosen ist der potentielle Einfluß von Variablen, die nicht Bestandteil des analytischen Modells sind, das der Untersuchung zugrunde liegt, sich daher "unbemerkt" auf das prognostizierte Verhalten auswirken und das Ergebnis der Theorieprüfung verfälschen können. Solche Variablen sollten daher in das analytische Modell integriert und hinsichtlich ihres Einflusses auf die abhängige Variable kontrolliert werden. Damit werden sie zu Kontrollvariablen

Theoretisch bedeutsame Kontrollvariablen gewinnen wir aus zwei mit dem Realismus konkurrierenden Denkschulen der Internationalen Beziehungen, dem Institutionalismus und dem Liberalismus . Dem Institutionalismus gemäß üben internationale Institutionen einen bedeutenden Einfluß auf die Außenpolitik der Staaten aus; der Liberalismus führt die staatliche Außenpolitik in erster Linie auf gesellschaftliche Interessen, Werte und Normen zurück. Beide Denkschulen messen den von ihnen identifizierten Variablen einen von den internationalen Machtrelationen unabhängigen Einfluß auf die Außenpolitik zu. (Note 18)


3.1.2.Institutionalismus

Wie der Realismus setzt auch der Institutionalismus auf der Ebene des internationalen Systems an, um das außenpolitische Verhalten von Staaten zu erklären. Mit dem Realismus gemein hat der Institutionalismus darüber hinaus die Betonung der anarchischen Struktur des internationalen Systems, in dem Staaten als einheitliche und zweckrationale Akteure miteinander interagieren. Die Folgerungen, die vom Institutionalismus aus der anarchischen Struktur des internationalen Systems für die Interessen und das Verhalten der Staatenakteure abgeleitet werden, weichen in unterschiedlich starkem Maße von den realistischen Hypothesen ab. Innerhalb der institutionalistischen Denkschule lassen sich zwei Analysansätze unterscheiden.

(1) Der rationalistische oder "schwache" Institutionalismus geht im Gegensatz zum Neorealismus davon aus, daß Staaten trotz der internationalen Anarchie nicht relative, sondern absolute Gewinne maximieren und daß sie in Situationen problematischer Handlungsinterdependenz mit anderen Staaten kooperieren, wenn sie so ihre absoluten Gewinne gegenüber den durch unilaterales Handeln erzielbaren Gewinnen vergrößern können (vgl. z.B. Grieco 1988; Keohane 1989; Zürn 1992). Zur Verregelung ihrer Interaktion und zur Überwachung eines kooperationskonformen Verhaltens aller beteiligten Staaten errichten sie internationale Regime und internationale Organisationen (subsumiert unter dem Oberbegriff internationale Institutionen). Steigt nun die Macht eines Staates, so wird er weiterhin in internationalen Institutionen verbleiben, aber in diesem Rahmen nach einer Erhöhung seiner Gewinne streben.

Die Nähe des rationalistischen Institutionalismus zum Neorealismus in seiner einflußorientierten Ausprägung liegt auf der Hand. Wie im Neorealismus wird auch hier angenommen, daß Staaten exogen gegebene Interessen haben (im Neorealismus relative, im Institutionalismus absolute Gewinnorientierung), eigennützig und zweckrational handeln. Und wie der Neorealismus prognostiziert auch der rationalistische Institutionalismus ein stärker einflußorientiertes Verhalten innerhalb bestehender Institutionen, wenn ein Staat aufgrund eines problemfeldübergreifenden Machtzuwachses die Erwartung hegt, auf diese Weise die eigenen Gewinne absolut steigern zu können. Der rationalistische Institutionalismus stellt damit allenfalls eine graduelle Alternative zum einflußorientierten Realismus dar, so daß es beim aktuellen Stand unserer Forschungsplanung nicht sinnvoll erscheint, eine abweichende Erwartung zu formulieren. (Note 19)

(2) Der reflexive oder "starke" Institutionalismus (Note 20) hingegen geht von einer größeren eigenständigen Beharrungs- und Prägekraft internationaler Institutionen aus. Auch wenn sie ursprünglich als Instrumente geschaffen wurden, um die Verfolgung bestimmter staatlicher In- teressen zu erleichtern, können Institutionen und in ihnen ablaufende Interaktionen über Zeit selbst zu unabhängigen Einflußfaktoren werden, die nun ihrerseits die ursprünglichen In- teressen und Identitäten von Staaten transformieren. Anders als der "schwache" Institutionalismus und Neorealismus betrachtet der "starke" Institutionalismus staatliche Interessen nicht als exogen gegeben und relativ konstant über Zeit; vielmehr sind sie auch immer Ergebnis kooperativer oder unkooperativer systemischer Interaktionsprozesse und werden durch die spezifischen Interaktions- und Lernprozesse innerhalb von Institutionen verändert. (Note 21) Die Verregelung staatlicher Interaktionsprozesse in internationalen Institutionen kann nach dieser Betrachtungsweise dazu führen, daß ein Staat den anderen nicht mehr als Konkurrenten, sondern als Partner betrachtet und daß somit der scheinbar zwangsläufig aus der anarchischen Struktur des Staatensystems folgende Mechanismus der Machtmaximierung außer Kraft gesetzt wird. Machtpolitik wird selbst als Institution betrachtet, die in einer "reifen" oder "regulierten Anarchie" wenn nicht überwunden, so doch in geregelte Bahnen geleitet werden kann (Buzan 1983: 96; Keohane 1989: 161; Rittberger/Zürn 1990; Wendt 1992: 409).

Aus dem Machtzuwachs eines Staates folgt für den "starken" Institutionalismus also keineswegs zwangsläufig ein stärker machtpolitisch orientiertes Verhalten. Letzteres ist nur eine Möglichkeit unter vielen, deren Eintreten oder Nichteintreten abhängig ist von der Beschaffenheit der internationalen Normen, die wiederum die Interessen- und Wertestruktur des betreffenden Akteurs prägen. Diese Auffassung vertreten auch Anderson/Goodman (1993: 60) in ihrer Analyse (west)deutscher Außenpolitik vor und nach 1990:

"Over the course of forty years, West Germany's reliance on a web of international institutions to achieve its foreign policy goals, born of an instrumental choice among painfully few alternatives, became so complete as to cause these institutions to become embedded in the very definition of state interests and strategies. In effect, this is what we mean when we describe Germany's institutional commitments in the post-1989 period as reflexive, they have become engrained, even assumed.

In bezug auf Deutschland kann mithin alternativ zum Realismus die reflexiv-institutionalistische Erwartung formuliert werden, daß der deutsche Machtzuwachs weder zu einer stärker autonomie- noch zu einer stärker einflußorientierten Außenpolitik führen wird, weil Deutschland in ein Geflecht internationaler Institutionen eingebunden ist, die kooperative Praktiken gegenüber kompetitiver Gewinnmaximierung in den Vordergrund stellen und die über die Zäsur von 1990 hinweg konstant geblieben sind.


3.1.3.Liberalismus

Die liberale Denkschule der Internationalen Beziehungen unterscheidet sich sowohl vom Realismus als auch vom Institutionalismus dadurch, daß sie subsystemischen, auf der Ebene der Einzelstaaten und -gesellschaften angesiedelten Faktoren die größte Erklärungskraft für die Außenpolitik und die internationale Politik zumißt. In der Formulierung von Moravcsik (1992: 2) baut sie auf drei Grundannahmen auf:
(1) daß Individuen und gesellschaftliche Gruppen die fundamentalen Akteure der internationalen Politik sind;
(2) daß die Politik von Regierungen die Interessen der Gesellschaft bzw. der durchsetzungsfähigen gesellschaftlichen Gruppen repräsentiert; und
(3) daß die internationale Politik vorrangig durch die Konvergenz oder Divergenz der - durch die Regierungen vertretenen - Interessen und nicht durch die internationale Machtverteilung bestimmt wird.

Für die theoretische Auseinandersetzung mit dem Realismus ist von vorrangiger Bedeutung, daß nach Auffassung des Liberalismus die Interessen und der Handlungsspielraum des Staatsapparats (zumindest in liberaldemokratischen Industrieländern) in hohem Maße von gesellschaftlichen Akteuren und Strukturen bestimmt werden. Den gesellschaftlichen Gruppen geht es in erster Linie darum, ihre jeweiligen Ziele zu erreichen und nicht per se die Macht des Staates im internationalen System zu steigern. Gesellschaftliche Akteure verfolgen keine Staatsräson. Allerdings schließt die liberale Theorie auch nicht aus, daß Machtpolitik im Sinne staatlicher Autonomie- oder Einflußmaximierung im Interesse einflußreicher gesellschaftlicher Gruppen liegt und von ihnen auch durchgesetzt werden kann.

Die liberale Theorie führt zwei Gruppen von Faktoren an, die bewirken können, daß ein Machtgewinn nicht zu einem Mehr an Machtpolitik führt: die Konstellation der gesellschaftlichen Interessen und die in der Gesellschaft internalisierten und institutionalisierten Werte und Normen. Im einen Fall sprechen wir von einem utilitaristischen, im anderen Fall von einem idealistischen Liberalismus.

(1) Dem utilitaristischen Liberalismus zufolge kann es im Interesse der durchsetzungsfähigen gesellschaftlichen Gruppen und Organisationen liegen, trotz Machtzuwachs des Staates die bisherige Außenpolitik fortzusetzen. Bezogen auf Deutschland könnte man argumentieren, daß die wirtschaftlichen und politischen Eliten der Bundesrepublik sich den bisher bestehenden Handlungsrestriktionen angepaßt haben und mit der alten Außenpolitik gut gefahren sind. Eine machtpolitische Veränderung der Außenpolitik würde nicht nur "Umstellungskosten" mit sich bringen, sondern auch "Autonomiegewinne" anvisieren, für die es in der deutschen Gesellschaft keine politisch einflußreichen Interessenten gibt. Während z.B. der Realismus davon ausgeht, daß es im Interesse jedes Staates liegen muß, seine Streitkräfte möglichst autonom und wirksam einsetzen zu können, ließe sich mit einer Variante der liberalen Theorie behaupten (Rosecrance 1986), daß es in einem "Handelsstaat" keine gesamtgesellschaftlich durchsetzungsfähigen Kräfte gibt, deren Interessen durch machtpolitischen Unilateralismus besser durchgesetzt werden könnten als auf kooperativem Wege.

Daraus folgt als utilitaristisch-liberale Erwartung , daß Deutschland trotz eines allgemeinen Machtzuwachses sich weder aus seinen multilateralen Bindungen zu lösen noch seine Einflußchancen in internationalen Institutionen zu steigern suchen wird, weil es in Deutschland auch nach 1990 keine durchsetzungsfähigen gesellschaftlichen Akteure gibt, die ein Interesse an einer machtpolitischen Profilierung haben.

(2) In der Sicht des idealistischen Liberalismus können in einer Gesellschaft die "außenpolitische Kultur", eingespielte Politikstile oder institutionalisierte Werte und Normen sich auch bei einem Machtzuwachs als robust erweisen und einer Wende zu einem ausgeprägt machtpolitischen Verhalten im Wege stehen - selbst dann, wenn eine intensivierte Machtpolitik durchaus einen Nutzen für die politischen und wirtschaftlichen Eliten erwarten ließe. Beispiele für solche Faktoren sind rechtliche Normierungen der Außenpolitik (z.B. das Friedensgebot und die Integrationsfreundlichkeit des Grundgesetzes) und auf Ausgleich und Kooperation gerichtete gesellschaftliche Mechanismen der Interessenvermittlung (wie z.B. der Korporatismus oder das Prinzip der Sozialpartnerschaft, vgl. Katzenstein 1991).

Die idealistisch-liberale Erwartung hinsichtlich der deutschen Außenpolitik ist daher, daß der Fortbestand gesellschaftlich verankerter (außen-)politischer Verhaltensnormen über die Zäsur von 1990 hinweg den deutschen Machtzuwachs neutralisieren und für eine Kontinuität in der Außenpolitik sorgen wird.

Das analytische Modell, das dem geplanten Projekt zugrunde liegt, ist in Abbildung 1 noch einmal im Überblick dargestellt.

Abb. 1: Das analytische Modell des Forschungsprojekts

(Anmerkung des WWW-Layouters: Dieses Schaubild konnte leider nicht in den WWW-Text eingefügt werden.)

Das Modell führt vier Variablen als unabhängige Variablen auf. Die aus der realistischen Theorie abgeleitete Testvariable "allgemeine Macht" weist im Untersuchungszeitraum eine Veränderung auf, den "allgemeinen Machtzuwachs". Die dem Institutionalismus und dem Liberalismus entstammenden Kontrollvariablen "internationale Institutionen", "gesellschaftli- che Interessen" und "gesellschaftliche Werte und Normen" sind hingegen als Konstanten ausgewiesen. Der zu prüfende realistische Ursache-Wirkungs- Zusammenhang ist durch die doppelten Linien dargestellt. Der Realismus behauptet, daß der Machtzuwachs der dominante kausale Einfluß auf die Außenpolitik ist. Der Machtzuwachs überwiegt die konkurrierenden Einflüsse der internationalen Institutionen, gesell- schaftlichen Interessen und gesellschaftlichen Werte und Normen, die eine außenpolitischen Kontinuität erwarten lassen. Daher prognostiziert der Realismus eine entweder autonomie- oder einflußorientierte machtpo- litische Profilierung der deutschen Außenpolitik.


3.2. Arbeitsprogramm

3.2.1.Methode und Kriterien der Fallauswahl

Für einen Hypothesentest stehen prinzipiell verschiedene Methoden zur Verfügung. Unterscheiden lassen sich das Experiment, die statistische Methode, der kontrollierte Vergleich (Note 22) und die (Einzel-)Fallstudie (vgl. Lijphart 1971, 1975). Die vier Methoden unterscheiden sich unter anderem darin, wie sie das Problem der Kontrolle (d.h. der Berücksichtigung des möglichen Einflusses weiterer, in der Hypothese nicht angesprochener Variablen) handhaben, wobei ihre diesbezügliche Leistungsfähigkeit und damit die Verläßlichkeit der Ergebnisse stark variieren: Am effektivsten bewältigt die experimentelle Methode dieses Problem, gefolgt von der statistischen Methode und der des kontrollierten Vergleichs, während bei der (Einzel-)Fallstudie letztlich ganz auf die Kontrolle von "Störvariablen" verzichtet wird.

Während die experimentelle Methode in der Außenpolitikanalyse aus offensichtlichen Gründen ausgeschlossen ist, ist die Anwendung der statistischen Methode prinzipiell möglich. Statistische Auswertungsverfahren können jedoch sinnvollerweise nur ab einer bestimmten Mindestzahl von zur Auswahl stehenden, voneinander unabhängigen Fällen angewandt werden. Nur dann ist gewährleistet, daß die Zufallsauswahl von Fällen aus der Grundgesamtheit nicht zu verzerrten Ergebnissen führt und der Einfluß von Störvariablen ausgeschaltet wird. In der deutschen Außenpolitik läßt sich zwar eine beachtliche Zahl von unterschiedlichen Sachbereichen unterscheiden, sie ist jedoch kaum groß genug, um eine statistische, d.h. auf dem Zufallsprinzip basierende Auswahl der zu untersuchenden Fälle zu rechtfertigen.

Die Methode des kontrollierten Vergleichs löst das Problem der Kontrolle von in der Hypothese nicht berücksichtigten Variablen durch eine gezielte Auswahl von Fällen. Sie ist daher - im Unterschied zur statistischen Methode - bereits bei kleineren Grundgesamtheiten anwendbar. Ein weiterer Vorteil der Methode des kontrollierten Vergleichs besteht darin, daß sie eine intensive und detaillierte Untersuchung der einzelnen Fälle vorsieht. Die Methode des kontrollierten Vergleichs ist für unser Forschungsvorhaben in besonderer Weise angemessen.

Die Auswahl von Fällen erfolgt bei der Methode des kontrollierten Vergleichs nach bestimmten Kriterien: Fälle sind dann geeignet, wenn sie (1) in bezug auf die interessierende unabhängige Variable Varianz aufweisen und (2) möglichst wenig Varianz in bezug auf andere unabhängige Variablen besitzen:

(1) Für alle Bereiche der deutschen Außenpolitik wird die erste Voraussetzung im Hinblick auf die realistischen Hypothesen durch die Wahl der Beobachtungszeitpunkte gewährleistet: Varianz in der unabhängigen Variable (allgemeine Macht) wird in allen Teilbereichen der Außenpolitik durch die Wahl eines Beobachtungszeitpunktes vor der Vereinigung und eines weiteren Beobachtungszeitpunktes nach der Vereinigung garantiert.

(2) Auch die zweite Bedingung wird von unserem Design erfüllt: Von den expliziten Kontrollvariablen (internationale Institutionen, gesellschaftliche Interessen und gesellschaftliche Werte und Normen) kann angenommen werden, daß sie über die Zäsur von 1990 hinweg weitgehend konstant geblieben sind. Weiterhin muß jedoch darauf geachtet werden, daß eine grundlegende Kontinuität im Problemfeld vorliegt: Bei den zu untersuchenden Teilbereichen der deutschen Außenpolitik sollten die Gegenstände und die Adressaten nach 1990 möglichst die gleichen wie vor 1990 sein. Insgesamt sollte sich - abgesehen von der deutschen Machtposition - im untersuchten außenpolitischen Teilbereich möglichst wenig geändert haben.

Daneben lassen sich zwei weitere Kriterien für die Fallauswahl anführen, die sicherstellen sollen, daß die Ergebnisse des geplanten Projekts repräsentativ und aussagekräftig sind:

(3) Das Forschungsprojekt soll weder eine umfassende Darstellung der deutschen Außenpolitik leisten, noch ist eine Klassifizierung der bundesdeutschen Außenpolitik danach beabsichtigt, ob sie eher realistische oder eher liberale und institutionalistische Züge aufweist. Vielmehr ist das Projekt primär erklärend angelegt; es soll analysieren, ob die realistische Theorie über die kausalen Einflüsse auf die Außenpolitik und ihren Wandel sich im Fall der deutschen Außenpolitik bewährt. Es strebt hierfür einen robusten Befund über die Gesamtheit deutscher Außenpolitik nach der Vereinigung an. Dafür ist es unerläßlich, Fallstudien in den verschiedenen Teilbereichen deutscher Außenpolitik durchzuführen. Die von Czempiel (1981) vorgenommene Unterscheidung von drei Sachbereichen der internationalen Politik (Sicherheit, Wohlfahrt und Herrschaft) kann als Grundlage für die Auswahl der Fallstudien herangezogen werden. Danach müssen alle Sachbereiche durch die Fallstudien abgedeckt werden. Ergänzend hierzu wird eine Repräsentativität in geographischer Hinsicht angestrebt ("Beziehungsfelder", vgl. S. 10).

(4) Theorien der Internationalen Beziehungen beanspruchen zwar grundsätzlich, die gesamten (politischen) internationalen Beziehungen erklären zu können. Allerdings ist die Auffassung verbreitet, daß ihre Erklärungskraft über die Sachbereiche der internationalen Politik hinweg variiert. Für eine Theorie der Internationalen Beziehungen gilt dementsprechend die Erklärung eines Falles in dem Sachbereich, in dem sie nach allgemeiner Auffassung als stark gilt, als "leicht" ("easy case"). Umgekehrt sind Fälle aus einem Sachbereich der internationalen Beziehungen, in dem die Erklärungskraft anderer Theorien als größer gilt, als "schwere Fälle" ("hard cases") anzusehen. Im Rahmen unseres Projektes wurde daher darauf geachtet, daß bei den Fallstudien sowohl leichte als auch schwere Fälle für den Realismus vertreten sind, um für die auf seiner Grundlage formulierten Prognosen "faire" Testbedingungen zu gewährleisten. Als ureigenes Terrain des Realismus gelten die "high politics", also Probleme, die die Sicherheit und Kernbereiche der Souveränität eines Staates betreffen. Sie müßte der Realismus besonders gut erklären können. Je weniger sicherheitsrelevant ein Politikbereich ist und je weniger er die staatliche Souveränität tangiert, desto eher fällt er in die "low politics" und gehört demnach zu den schweren Fällen für den Realismus. Würden die realistischen Hypothesen bei den "high politics"- Fällen versagen, so wäre dies eine klarere Einschränkung der Geltung dieser Theorie als eine mangelnde Erklärungskraft (nur) bei den "low politics"-Fällen.


3.2.2.Geplante Fallstudien

Für das Projekt sind fünf Fallstudien über die deutsche Außenpolitik geplant: die NATO-Politik, die EG/EU-Verfassungspolitik, die Außenhandelspolitik, die Entwicklungshilfepolitik und die Menschen- rechtspolitik. Diese Fallstudien weisen eine hinreichend große Varianz hinsichtlich der Sachbereiche und Beziehungsfelder der internationalen Politik sowie des Schwierigkeitsgrades für den Realismus auf. Eine Übersicht gibt die folgende Tabelle:

Tabelle 1: Die Verteilung der Fallstudien auf Politik- und Beziehungsfelder und auf "schwere" und "leichte" Fälle
Fallstudie Politikfeld Beziehungsfeld Schwierigkeit für Realismus
NATO-Politik Sicherheit West (transatlantisch) high politics: leicht
EG/EU-Verfassungspolitik Herrschaft West (europäisch) high politics: leicht
Außenhandelspolitik Wohlfahrt Global low politics: schwer
Entwicklungshilfepolitik Wohlfahrt Süd low politics: schwer
Menschenrechtspolitik Herrschaft Global low politics: schwer

Im folgenden werden die geplanten Fallstudien in kurzen Dossiers vorgestellt, die jeweils drei Punkte ansprechen:
(a) Fallbeschreibung: Welche Untersuchungsgegenstände wird die Fallstudie umfassen?
(b) Auswahlkriterien: Wie erfüllt der Fall das Kriterium der Konstanz des Problemfeldes?
(c) Fallspezifische Prognose: Wie können die zwei allgemeinen realistischen Prognosen für die Untersuchungsgegenstände der Fallstudien in vorläufiger Form präzisiert werden?


3.2.2.1. Fallstudie "NATO-Politik"

(a) Fallbeschreibung: Mit der Fallstudie zur deutschen NATO-Politik sollen die wichtigsten Aspekte deutscher Sicherheitspolitik abgedeckt werden. Die deutsche Sicherheitspolitik war zumindest bis 1990 durch die feste Einbindung in die Nordatlantische Allianz geprägt. Von der Abrüstungspolitik über die militärpolitische Strategie bis hin zur militärischen Einsatzplanung wurden alle sicherheitspolitisch relevanten Aktivitäten Deutschlands mit den Allianzpartnern abgestimmt und koordiniert. Auch nach 1990 werden die entscheidenden sicherheitspolitischen Fragen im Rahmen der NATO bearbeitet. Offen ist jedoch für viele Beobachter, ob das vereinigte Deutschland sich auf die gleiche Weise wie zuvor innerhalb dieser Institution engagieren wird.

(b) Auswahlkriterien: Eine Konstanz des Problemfeldes "Sicherheitspolitik" ist im allgemeinen sicherlich nicht gegeben. Das Ende des Kalten Krieges und der Zusammenbruch des sowjetisch dominierten Machtbereichs veränderten das sicherheitspolitische Koordinatensystem grundlegend. Aus zwei Gründen erschüttert dies jedoch nicht das Untersuchungsdesign. Zum einen zählt die Bedrohungslage Deutschlands, die sich seit 1990/91 außerordentlich entspannt hat, nicht zu den konstant zu haltenden Kontrollvariablen, sondern sie ist ein Bestandteil des Machtzuwachses der Bundesrepublik und damit der Testvariable. Zum anderen ist die Sicherheitspolitik in der NATO der zentrale Untersuchungsgegenstand. Diese hat sich hinsichtlich ihrer Mitglieder, der ihr zugrundeliegenden Normen und Werte sowie ihrer grundsätzlichen Politikziele - die kollektive Gewährleistung von Frieden, Sicherheit und Stabilität in Europa - mit der Zäsur von 1990 nicht verändert. Das heißt, daß zwar bestimmte Politikziele, wie beispielsweise die Osterweiterung der NATO, aufgrund ihrer Neuartigkeit nicht selbst Untersuchungsgegenstand der Fallstudie sein können, durchaus aber die Art und Weise des Umgangs mit diesem Thema innerhalb der NATO.

(c) Fallspezifische Prognosen: Der autonomieorientierte Realismus (realistische Allianztheorie) betont in der Sicherheitspolitik in erster Linie das "balancing"-Verhalten der Staaten gegenüber Bedrohungen und das Streben nach größtmöglicher Unabhängigkeit, die sich in der Fähigkeit zur Selbsthilfe in Verteidigungsfragen manifestiert. Realistische Autoren prognostizieren übereinstimmend, daß Deutschland danach strebt, sich mehr und mehr aus der NATO zurückzuziehen: Aufgrund der entspannten Bedrohungslage habe es ein mächtigeres Deutschland nicht mehr nötig, die Beschränkungen seiner Handlungsfähigkeit durch die NATO hinzunehmen. (Note 24)

Prognose 1: Da Deutschland einen Zuwachs an Macht zu verzeichnen hat, wird es zunehmend auf Distanz zur NATO gehen und eine stärker unilateral orientierte Sicherheitspolitik betreiben.

Im Lichte dieser Prognose müßte man z.B. erwarten, daß sich in der deutschen Sicherheitspolitik nach der Vereinigung eine allmähliche Rückkehr zu nationalen Verteidigungsstrukturen (im Gegensatz zu den integrierten der NATO) und eine verminderte Bündnissolidarität z.B. bei Militäreinsätzen der NATO abzeichnen.

Aus der Sicht des einflußmaximierenden Realismus ergibt sich eine etwas andere Erwartung. Von seinen Prämissen ausgehend kann plausibel argumentiert werden, daß die heutigen sicherheitspolitischen Bedingungen, v.a. die hohe Kosten und Risiken einzelstaatlicher Sicherheits- politik, es nahelegen, einer größeren sicherheitspolitischen Mitsprache in den einschlägigen multilateralen Institutionen Priorität vor einer national-autonomen Sicherheitspolitik einzuräumen. So mußte auch Frankreich sich jüngst eingestehen, daß einflußreiche Sicherheitspolitik in Europa außerhalb der NATO heute nicht mehr vorstellbar ist. Das Hauptziel deutscher Sicherheitspolitik bestünde mithin darin, die Politik der NATO entscheidend mitzubestimmen.

Prognose 2: Da Deutschland einen Zuwachs an Macht zu verzeichnen hat, wird es versuchen, seinen Einfluß in der NATO zu vergrößern und die Allianz stärker für seine Sicherheitsinteressen zu instrumentalisieren.

Die deutsche Sicherheitspolitik müßte nach dieser Prognose z.B. danach streben, einen größeren Einfluß in den NATO-Organen zu gewinnen und bei den Entscheidungen über NATO-Militäreinsätze, aber auch über die Art und Weise der NATO-Osterweiterung ein entscheidendes Wort mitzureden.


3.2.2.2. Fallstudie "EG/EU-Verfassungspolitik"

(a) Fallbeschreibung: Seit ihrer Gründung 1957 existieren in der Europäischen Gemeinschaft eine intergouvernementale und eine supranationale Regierungsebene nebeneinander. Ein entscheidender Unterschied zwischen den beiden Regierungsebenen besteht darin, daß die supranationale Regierungsebene die staatliche Souveränität stärker einschränkt und daß auf dieser Regierungsebene weniger Möglichkeiten für einzelstaatliche Machtpolitik bestehen. Auf den Agenden der bisherigen Regierungskonferenzen nimmt das Verhältnis der beiden Regierungsebenen neben der Frage der Kompetenzverteilung zwischen Gemeinschaft und Mitgliedsstaaten den prominentesten Platz ein. Die Bundesrepublik gehörte bislang zu den Befürwortern eines Ausbaus der supranationalen Regierungsebene. Tatsächlich war diese Politik ein Kernbestandteil der Europapolitik der "alten" Bundesrepublik. Mit ihrer Präferenz für einen Ausbau der supranationalen Regierungsebene drückte die Bundesrepublik ihre Unterstützung einer vertieften europäischen Integration aus.

(b) Auswahlkriterien: Fragen europäischer Verfassungspolitik begleiten die EG/EU seit ihrer Gründung und sind von den Umwälzungen im internationalen System seit Ende der 80er Jahre weitgehend unberührt geblieben, denn die Frage, welche der beiden Regierungsebenen stärker ausgebaut werden soll, stellt sich unabhängig von der Kompetenzfülle und der Mitgliederzahl der Gemeinschaft. So ist die Politik der Bundesrepublik auf den Regierungskonferenzen von 1986/87 (Einheitliche Europäische Akte), 1990/91 ("Maastricht") und von 1996/97 ("Maastricht II") sehr gut miteinander vergleichbar. Bei allen Konferenzen stand und steht die Stärkung der supranationalen Regierungsebene (vor allem die Erweiterung der Kompetenzen des Europäischen Parlaments und die Ausdehnung von Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat) auf der Tagesordnung.

(c) Fallspezifische Prognosen: Aus der Perspektive der realistischen Theorie ist eine Veränderung der deutschen Europapolitik zu erwarten. Aus der Perspektive der Autonomiemaximierung ist die Prognose nicht unbedingt der Austritt Deutschlands aus der EU. Zumindest aber wird die Bundesrepublik entgegen ihrer bisherigen Präferenz eine weitere Ausdehnung der Tätigkeiten der EU zu verhindern und ihrer eigenen Politik möglichst große autonome Handlungsspielräume zu sichern suchen.

Prognose 1: Da Deutschland einen Zuwachs an Macht zu verzeichnen hat, wird es sich einer weitergehenden Zusammenarbeit auf der europäischen Ebene widersetzen und sich verstärkt Freiräume für unilaterales Handeln zu schaffen versuchen.

Aus der Perspektive der Einflußmaximierung wird Deutschland auf eine institutionelle Ordnung der EU hinwirken, die einen Einsatz seiner Machtressourcen ermöglicht. Konkret bedeutet das, daß Deutschland zwar nicht generell gegen eine Europäisierung von Politikfeldern, aber doch gegen ihre Vergemeinschaftung (d.h. ihre Bearbeitung auf der supranationalen anstelle der intergouvernementalen Regierungsebene) sein wird und daß es keine weitere Stärkung der supranationalen Regierungsebene, d.h. der Kommission, des Europäischen Parlaments und des Europäischen Gerichtshofs, unterstützen wird. Darüber hinaus wird Deutschland versuchen, in den verschiedenen EG-Organen die Abstimmungsregeln so zu ändern, daß sein eigener Einfluß steigt.

Prognose 2: Da Deutschland einen Zuwachs an Macht zu verzeichnen hat, wird es sich für eine Stärkung der intergouvernementalen zu Lasten der supranationalen Regierungsebene und für eine Vergrößerung seines Abstimmungsgewichts innerhalb der bestehenden Institutionen einsetzen.


3.2.2.3. Fallstudie "Außenhandelspolitik"

(a) Fallbeschreibung: In der Außenhandelspolitik nehmen die Verhandlungen über das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (GATT) mit dem Ziel einer Verringerung von Handelshemmnissen aller Art eine zentrale Rolle ein. Für einen Vergleich der deutschen Außenpolitik vor und nach der Vereinigung bietet sich konkret die Uruguay-Runde des GATT an, die mit dem Ministertreffen in Punta del Este im September 1986 begonnen hatte und 1994 mit der Unterzeichnung der Verträge in Marrakesh abgeschlossen wurde. Die Uruguay-Runde umfaßte Verhandlungen über einen weitgespannten Themenkatalog von der traditionellen Zollsenkung bis hin zu völlig neuen Themenbereichen wie dem Handel mit Dienstleistungen, dem Schutz geistigen Eigentums und nicht zuletzt der Errichtung der Welthandelsorganisation WTO.

Ein methodisches Problem ergibt sich aus der Tatsache, daß Deutschlands Außenhandelspolitik nicht unmittelbar in den GATT-Verhandlungen der Uruguay-Runde beobachtet werden kann. Entsprechend der Festlegung im EWG-Vertrag ist Außenhandelspolitik der EG-Mitgliedsstaaten seit Beginn der siebziger Jahre nur noch in Abstimmung mit der EG/EU möglich. Eine Folge dieser Regelung ist, daß der EG-Kommission die Verhandlungsführung im GATT obliegt. Die deutsche GATT-bezogene Außenhandelspolitik kann daher unmittelbar nur auf der europäischen Ebene beobachtet werden, also bei der Abstimmung der europäischen Position für die GATT-Verhandlungen. Im Hinblick auf die Fallstudie scheint es daher sinnvoll, die Fallstudie auf GATT-Verhandlungsthemen zu konzentrieren, die innerhalb der EG/EU kontrovers diskutiert wurden. Dies trifft zum einen auf die Eingliederung des Agrarhandels in das GATT und zum anderen auf die Verhandlungen über das Abkommen über den Dienstleistungshandel (GATS) zu, zwei Themen, die mit zu den strittigsten Verhandlungspunkten der ursprünglich auf vier Jahre angesetzten Uruguay-Runde gehörten.

(b) Auswahlkriterien: Eine Konstanz des Problemfeldes "GATT-Verhandlungen" ist weitestgehend gegeben: sowohl der Verhandlungsrahmen und die beteiligten Akteure als auch die Verhandlungsgegenstände waren über den Zeitraum der deutschen Vereinigung hinweg konstant. Die Ost-West-Entspannung hatte keinen großen Einfluß auf die Verhandlungen, da die Staaten des sich auflösenden Ostblocks erst nach Abschluß der Uruguay-Runde dem GATT beitraten. Auch Schwankungen der internationalen Konjunktur übten keinen maßgeblichen Einfluß auf die Uruguay-Verhandlungsrunde aus.

(c) Fallspezifische Prognosen: Die allgemeinen realistischen Prognosen können für die Untersuchung der GATT-Verhandlungen folgendermaßen spezifiziert werden: Die autonomiemaximierende Prognose darf nicht so interpretiert werden, daß Deutschland einen kompletten Rückzug aus dem GATT-Abkommen anstrebt. Möglich ist hingegen eine Abkehr vom Multilateralismus zum einen in der Form, daß Deutschland seit der Vereinigung bei genereller (formeller) Akzeptanz des GATT vermehrt (intentional) gegen einzelne GATT-Regeln verstößt oder sie umgeht. (Note 25) Zum anderen könnte Deutschland die EG/EU vermehrt zu einem Verhalten drängen, daß im Widerspruch zu den Regeln und Prinzipien des GATT steht. Die autonomiemaximierende realistische Prognose kann dementsprechend wie folgt formuliert werden:

Prognose 1: Da Deutschland einen Zuwachs an Macht zu verzeichnen hat, wird es selbst oder vermittelt über die EG/EU verstärkt gegen GATT-Regeln verstoßen oder sie umgehen.

Im Einklang mit der einflußmaximierenden Hypothese müßte Deutschland versuchen, seinen Zuwachs an Macht in Form einer Verstärkung seines Einflusses bei den GATT-Verhandlungen umzusetzen. Wie bereits dargestellt, ist dies nur mittelbar im EG/EU-Rahmen bei der Abstimmung der GATT-Verhandlungsposition möglich.

Prognose 2: Da Deutschland einen Zuwachs an Macht zu verzeichnen hat, wird es versuchen, seine handelspolitischen Präferenzen im Rahmen der EG/EU bei der Festlegung der gemeinsamen Position für die GATT-Verhandlungen entschiedener durchzusetzen.


3.2.2.4. Fallstudie "Entwicklungshilfepolitik"

(a) Fallbeschreibung: Die staatliche Entwicklungshilfepolitik, die im Rahmen der Fallstudie allein betrachtet wird, gliedert sich in einen bilateralen und einen multilateralen Bereich. Bilaterale Entwicklungshilfepolitik bedeutet, daß die Bundesregierung ihre Beiträge unmittelbar an ein Partnerland leistet. Zur multilateralen Entwicklungshilfepolitik der BRD gehört die finanzielle Unterstützung von und die personelle Mitarbeit in den VN-Sonderorganisationen und VN-Programmen, die Entwicklungsmaßnahmen durchführen bzw. fördern. Darüber hinaus nimmt die BRD als gewichtiger Beitragszahler der internationalen Finanzierungsinstitute (Weltbank-Gruppe, IWF, Regionalbanken) Einfluß auf die Vergabe von Krediten an Entwicklungsländer. Drittens wird auch die Beteiligung an der europäischen Entwicklungshilfepolitik von der Bundesregierung dem multilateralen Bereich zugeordnet.

In der seit Beginn der neunziger Jahre geführten Diskussion über die zukünftige Ausrichtung der deutschen Entwicklungshilfepolitik wurde die Erwartung geäußert, Deutschland werde - durch das Ende des Ost-West Konflikts aus dem bündnispolitischen "Korsett" befreit und mit größerer Handlungsfreiheit ausgestattet - die Entwicklungshilfepolitik stärker als zuvor als Instrument zur Durchsetzung von Eigeninteressen instrumentalisieren. Ob diese Erwartung dem tatsächlichen Verhalten Deutschlands in der Entwicklungshilfepolitik entspricht, soll im Rahmen der Fallstudie überprüft werden.

(b) Auswahlkriterien: Dem Auswahlkriterium einer grundlegenden Kontinuität im Problemfeld genügt die Fallstudie sowohl im Hinblick auf die bilaterale als auch auf die multilaterale Entwicklungshilfepolitik. Die institutionellen Rahmenbedingungen sind sowohl auf nationaler Ebene als auch auf internationaler Ebene konstant geblieben. Auch neue Akteure, die einen unabhängigen Einfluß auf das entwicklungspolitische Verhalten Deutschlands nehmen könnten, treten nicht auf. Insofern erscheint der Fall der Entwicklungshilfepolitik gut geeignet für einen Test der realistischen Außenpolitiktheorie. (Note 26)

(c) Fallspezifische Prognosen: Um eine zu hohe Komplexität zu vermeiden und um die Vergleichbarkeit mit den anderen Fallstudien zu gewährleisten, ist geplant, die realistischen Prognosen zum außenpolitischen Verhalten Deutschlands nach 1989/90 vorrangig anhand der multilateralen Entwicklungshilfepolitik der BRD zu überprüfen. Die bilaterale Hilfe wird nur in ihrem Verhältnis zur multilateralen Hilfe berücksichtigt, nicht in ihrer Binnenstruktur.

Wird die realistische Verhaltensannahme der Autonomiemaximierung zugrundegelegt, so lautet die entsprechende Prognose hinsichtlich des außenpolitischen Verhaltens der BRD gegenüber den oben genannten multilateralen Entwicklungshilfeinstitutionen nach 1989/90 wie folgt:

Prognose 1: Da Deutschland einen Zuwachs an Macht zu verzeichnen hat, wird es sich aus den internationalen Entwicklungshilfeinstitutionen zurückziehen und die Vergabe von Entwicklungshilfe verstärkt an sicherheitspolitischen und außenwirtschaftlichen Eigeninteressen ausrichten.

Wird von einem Akteursverständnis ausgegangen, das die Einflußmaximierung in den Mittelpunkt stellt, so ergibt sich die folgende Prognose:

Prognose 2: Da Deutschland einen Zuwachs an Macht zu verzeichnen hat, wird es versuchen, seine Einflußmöglichkeiten in den multilateralen Entwicklungshilfeinstitutionen zu steigern, oder seine Ressourcen auf diejenigen multilateralen Entwicklungshilfeinstitutionen konzentrieren, in denen sein Einfluß am größten ist.

Aus dieser Perspektive wäre eine deutliche Reduzierung finanzieller Mittel für die Entwicklungsprogramme der UNO (so etwa UNDP, UNICEF, UNFPA) zu erwarten, da in diesen die Entwicklungsländer über eine Stimmenmehrheit verfügen, was eine Instrumentalisierung nahezu unmöglich macht. Eine einflußorientierte Politik hätte größere Erfolgschancen innerhalb des europäischen Entwicklungshilfe-Programms und müßte demnach vor allem in diesem Rahmen beobachtet werden können. (Note 27)


3.2.2.5. Fallstudie "Menschenrechtspolitik"

(a) Fallbeschreibung: Menschenrechte betreffen die Gestaltung der Beziehungen zwischen Herrschenden und Beherrschten . Sie stellen für Regierungen also primär ein innenpolitisches und nur sekundär ein außenpolitisches Aktionsfeld dar. Doch haben seit dem Zweiten Weltkrieg viele (v.a. westliche) Länder sich für den weltweiten Schutz der Menschenrechte engagiert. Internationale Organisationen haben sich auf globaler und regionaler Ebene menschenrechtspolitische Ziele gesetzt und zu ihrer Verwirklichung politische und juristische Schutzsysteme etabliert. Die Fallstudie wird sich mit der auswärtigen Menschenrechtspolitik der Bundesrepublik - also mit ihrem Einsatz für die Verwirklichung der Menschenrechte in anderen Ländern - in den multi- wie bilateralen Beziehungen befassen. Die Menschenrechtspolitik der "alten" Bundesrepublik gilt als ebenso multilateral orientiert wie passiv und unauffällig. Die Bundesrepublik zeigte zwar eine große Bereitschaft, internationalen Menschenrechtsvereinbarungen beizutreten und Folge zu leisten, war jedoch zurückhaltend, wenn es um die Anprangerung und Verurteilung von Menschenrechtsverletzungen in anderen Ländern ging.

(b) Auswahlkriterien: Aufgrund der (im Vergleich z.B. zu Europarat und OSZE) relativen Konstanz der Rahmenbedingungen sind die Vereinten Nationen (VN) am besten geeignet, um die multilaterale bundesdeutsche Politik vor und nach 1990 zu untersuchen. Insbesondere die politische Behandlung schwerer Menschenrechtsverletzungen in bestimmten Ländern durch die VN-Menschenrechtskommission und die Generalversammlung stellt einen geeigneten "Fall" dar, da hier Veränderungen bei der unabhängigen Variablen "Macht" eine unmittelbarere Einwirkung auf die Politik der Bundesrepublik zuzuschreiben ist als in anderen Bereichen der Menschenrechtspolitik, die (wie z.B. die menschenrechtliche Normsetzung) für die Machtkonkurrenz zwischen den Staaten weniger instrumentalisierbar sind. Nicht geeignet für die Fallstudie erscheint hingegen der institutionelle Kontext der KSZE/OSZE. Dieser ist zu stark von den Umwälzungen der Welpolitik im Zuge des Endes des Ost-West Konfliktes sowie durch die (in der Umwandlung von der Konferenz zur Organisation zum Ausdruck gekommenen) Wandlung der Institution selbst geprägt, um die für eine nachweisbare Zurückführung einer feststellbaren Veränderung der deutschen Politik auf einen Machtzuwachs der Bundesrepublik erforderliche Konstanz der Rahmenbedingungen zu gewährleisten. Für die Analyse deutscher Menschenrechts-Außenpolitik in bilateralen Beziehungen bietet sich eine Untersuchung der Beziehungen der Bundesrepublik zu China und/ oder dem Iran an, weil diese gleichfalls von vergleichsweise hoher Konstanz der Rahmenbedingungen geprägt sind.

(c) Fallspezifische Prognosen: Der Realismus interpretiert auswärtige Menschenrechtspolitik als zweckrational. Demnach klagt ein Staat Menschenrechtsverletzungen anderer Staaten nur dann an, wenn ihm dies Machtvorteile bringt, hält sich aber zurück, wenn die Anprangerung von Menschenrechtsverletzungen für ihn politische und/oder wirtschaftliche Kosten verursachen würde. Die realistische Annahme der Autonomiemaximierung führt zu folgender Prognose:

Prognose 1: Da Deutschland einen Zuwachs an Macht zu verzeichnen hat, wird es seine Menschenrechts-Außenpolitik verstärkt unilateral betreiben und an seinen außenwirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Interessen orientieren.

Die realistische Annahme der Einflußmaximierung läßt hingegen erwarten:

Prognose 2: Da Deutschland einen Zuwachs an Macht zu verzeichnen hat, wird es sich bemühen, stärkeren Einfluß auf die Verfahren und Instrumente des internationalen Menschenrechtsschutzes zu gewinnen und diese verstärkt für seine außenwirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Interessen zu instrumentalisieren.

3.2.3.Arbeitsprogramm für die Fallstudien

Jede der geplanten Fallstudien wird drei Arbeitsschritte umfassen:
(1) die Bestimmung der unabhängigen Variablen und
(2) der abhängigen Variable "Außenpolitik" für die Zeiträume vor und nach der Zäsur von "1990" sowie
(3) die Analyse des Prozesses, der zum Wandel oder zur Kontinuität in der deutschen Außenpolitik führte.

(1) Erhebung der unabhängigen Variablen: Für die Fallstudienauswahl wurde bereits eine erste, vorläufige Einschätzung der unabhängigen Variablen vorgenommen. Diese Einschätzung muß jedoch in jeder Fallstudie noch einmal sorgfältig überprüft werden:

(a) Für die Testvariable "Macht" könnte sich ergeben, daß "allgemeine" und "problemfeldspezifische Macht" auseinanderfallen; auch wenn die Macht Deutschlands insgesamt zugenommen hat, kann der Machtzuwachs in den untersuchten Sachbereichen unterschiedlich stark ausgefallen sein, in einzelnen von ihnen vielleicht auch gar nicht stattgefunden haben. Sollte der Machtzuwachs im Vergleich der Sachbereiche signifikant variieren, so wäre dies zunächst eine den realistischen Prognosen widersprechendes Ergebnis; wenn allerdings die unterschiedliche Machtentwicklung mit einer unterschiedlich ausgeprägten machtpolitischen Orientierung der deutschen Außenpolitik kovariieren sollte, wäre zumindest die Erklärungskraft des Faktors "Macht" untermauert.

(b) Vor allem die Kontrollvariablen müssen noch einmal eingehend daraufhin überprüft werden, ob sie tatsächlich über die Zäsur von 1990 hinweg konstant geblieben sind. Sollten sich ihre Ausprägungen entgegen unserer ersten Einschätzung geändert haben, so muß dies bei der Bewertung des Testergebnisses berücksichtigt werden. Eine für jeden Einzelfall konstante, aber über die Fälle hinweg unterschiedliche Ausprägung der Kontrollvariablen kann darüber hinaus eventuell zu interessanten Erkenntnissen darüber führen, unter welchen Bedingungen die realistische Theorie besonders starke oder schwache prognostische Leistungen aufweist. Angenommen, die Stärke internationaler Institutionen variierte in den untersuchten außenpolitischen Teilbereichen zusammen mit der Genauigkeit der realistischen Prognosen: Damit ließe sich der mit der institutionalistischen Theorie übereinstimmende Zusammenhang erhärten, daß der vom Realismus behauptete kausale Nexus von Machtzuwachs und machtpolitischer Profilierung umso stärker ist, je schwächer die internationalen Institutionen im untersuchten Problemfeld sind.

(2) Erhebung der abhängigen Variable: Die abhängige Variable "Außenpolitik" kann im Rahmen unseres Projekts allgemein die Ausprägungen "Kontinuität" und "Wandel" annehmen; der "Wandel" wiederum kann sich aus realistischer Sicht als "Autonomiemaximierung" oder "Einflußmaximierung" manifestieren. Für die Sachbereiche, die in den Fallstudien untersucht werden sollen, müssen diese Ausprägungen der abhängigen Variablen zunächst noch einmal sorgfältig konzeptualisiert und operationalisiert werden. Anschließend wird die bundesdeutsche Außenpolitik seit Beginn der achtziger Jahre für jeden der ausgewählten Sachbereiche vor und nach der Vereingung beschrieben, um festzustellen, ob ein Wandel zu mehr Machtpolitik stattgefunden hat und, wenn ja, ob er sich eher als Autonomie- oder als Einflußmaximierung klassifizieren läßt. Wenn die Werte für die unabhängigen und die abhängigen Variablen erhoben sind, lassen sich die realistischen Prognosen zunächst mit Hilfe einer Kovarianzanalyse überprüfen. Diese Kovarianzanalyse muß jedoch um eine Prozeßanalyse ergänzt werden.

(3) Prozeßanalyse: Bei einer Prozeßanalyse ("process tracing") der Außenpolitik (bei George/McKeown 1985 beschrieben) wird gezielt nach Belegen dafür gesucht, daß ein vermuteter Einflußfaktor im außenpolitischen Entscheidungsprozeß tatsächlich wirksam gewesen ist. Diese Methode ist sehr aufwendig. Um den Prozeß der Außenpolitikentwicklung über einen Zeitraum von etwa zwanzig Jahren zu rekonstruieren, ist ein detailliertes zeithistorisches Studium der Fälle notwendig. Es gibt zwei Gründe, aus denen es erforderlich ist, nicht allein die Kovarianz der unabhängigen und abhängigen Variablen zu untersuchen, sondern auch den kausalen Prozeß, durch den beide miteinander verknüpft sind.

(a) Zum einen bietet die Prozeßanalyse die Möglichkeit, den aus der Kovarianz von unabhängiger und abhängiger Variable erschlossenen kausalen Zusammenhang noch einmal gesondert zu prüfen. Die reine Kovarianzanalyse ist anfällig für Erklärungen durch Scheinursachen. Auch wenn der Zusammenhang sich bestätigt, erhöht die Prozeßanalyse unser Verständnis des Falls und die Aussagekraft der Theorie, indem sie zeigt, wie es vom Machtzuwachs zum außenpolitischen Wandel kam, und allgemein, wie ein Wandel in der internationalen Machtposition eines Landes sich in seine Außenpolitik übersetzt.

(b) Zum anderen bietet die Prozeßanalyse die Möglichkeit, im Fall eines Scheiterns der realistischen Prognosen zu prüfen, welcher der drei Kontrollvariablen die größte Erklärungskraft für die außenpolitische Kontinuität Deutschlands zukommt. Da bzw. sofern alle drei Kontrollvariablen über die Zäsur von 1990 hinweg konstant sind, bieten ihre Ausprägungen keine Anhaltspunkte dafür, welche von ihnen den Machtzuwachs "neutralisiert" hat. Ließe sich in einem Fall hingegen durch eine Analyse des Entscheidungsprozesses zeigen, daß sich beispielsweise gesellschaftliche Interessengruppen, für die die Fortführung der "alten" Außenpolitik von Nutzen war, gegenüber Interessengruppen, die auf eine stärker machtpolitische Profilierung drängten, durchsetzen konnten, so spräche dies dafür, daß der vom utilitaristischen Liberalismus angeführte Faktor "gesellschaftliche Interessen" ausschlaggebend war.


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Fußnoten:

1 Die Autoren danken Derk Bienen, Henning Boekle, Andreas Hasenclever, Peter Mayer, Thomas Nielebock, Martin Mogler, Jörn Rehren, Christina Schrade und Wolfgang Wagner für ihre Mitarbeit am Projektantrag.

2 Einschlägige Beispiele für die präskriptive Debatte sind Garton Ash (1994); Kaiser (1995); Link (1991); Senghaas (1993, 1995); Schwarz (1994); Stürmer (1994).

3 Hellmann (1996); Kreile (1996); Wette (1994, 1996).

4 "1990" steht hier als Jahr der Vereinigung Deutschlands stellvertretend für einen Komplex von Ereignissen, der zeitlich etwa von der Öffnung der "Mauer" am 9.11.1989 bis zum Abschluß des Abzugs der sowjetischen Truppen aus Deutschland am 1.9.1994 reicht.

5 Dazu gehören Arnold (1995); Bredow/Jäger (1993); Hacke (1993); Haftendorn (1994); Kaiser (1995); Schwarz (1994).

6 Eine große Rolle wird der Veränderung der "Lage" nicht nur von jenen Autoren beigemessen, deren Analyse explizit geopolitisch inspiriert ist (als Geopolitiker vgl. Brill 1994). Als "Mittellage" zwischen einem stabilen Westen und einem instabilen Osten kommt der Geographie auch bei anderen Autoren eine gewisse Bedeutung zu (so Hanrieder 1995; Krell 1992; Link 1991).

7 Für Pfetsch (1993: 212) sind Machtfaktoren wie Territoriums- und Bevölkerungszuwachs dauerhaft durch die EG neutralisiert.

8 Dazu gehören u.a. Czempiel (1993); Maull (1992); Senghaas (1993, 1994); Wolf (1995).

9 Eine prominente Liste von sieben "Kardinalsünden" deutscher Außenpolitik, bei denen die Bonner Regierung ihre Partner durch Alleingänge irritierte, hat Horsley (1992) vorgelegt. Die sieben Fäll sind 1. der Zehn-Punkte-Plan Kohls vom November 1989; 2. die Behandlung der polnischen Westgrenze; 3. die zögerliche Unterstützung der Alliierten im 2. Golfkrieg; 4. der dt.-frz. Plan für eine europäische Streitmacht; 5. der Vorwurf, den eigenen Einfluß in der EG über Gebühr zu nutzen; 6. die Anerkennung Kroatiens und Sloweniens; und 7. die Zinspolitik der Bundesbank.

10 Vgl. etwa die Bedenken bei von Bredow/Jäger (1993: 24).

11 So auch Bulmer/Paterson (1996).

12 Unter "Realismus" verstehen wir hier in erster Linie den Neorealismus, der von Waltz (1979) begründet wurde und sich als vorherrschende Variante der realistischen Denkschule in den Internationalen Beziehungen etabliert hat. Freilich ist die realistische Schule kein monolithischer Block und weist interne Differenzen auf. Dem trägt das Design des Forschungsprojektes dadurch Rechnung, daß es nicht eine einizge, auf die Annahme der Autonomiemaximierung gestützte Prognose formuliert, sondern eine weitere, die von einer weniger rigiden Annahme einflußmaximierender Akteure ausgeht. Andere Kontroversen innerhalb der realistischen Denkschule sind in unserem Forschungskontext ohne Bedeutung und können daher unberücksichtigt bleiben. Insgesamt wollen wir uns auf solche Autoren beschränken, die nach allgemeiner Auffassung als "schulbildende" Vertreter des Realismus gelten (v.a. Waltz, Grieco und Mearsheimer).

13 In seiner Formulierung bei Waltz ist der Neorealismus keine (subsystemische) Theorie der Außenpolitik, sondern eine (systemische) Theorie der internationalen Politik. Es spricht jedoch prinzipiell nichts dagegen, ihn auch für die Außenpolitikanalyse zu verwenden (vgl. Elman 1996), sofern man dem Analyseebenen-Problem Rechnung trägt und die systemische Variable "internationale Machtverteilung" in eine positionale Variable "relative Machtposition eines Staats" transformiert. Wie gezeigt, wird der Neorealismus auch von seinen Vertretern für die Vorhersage außenpolitischen Verhaltens regelmäßig verwendet.

14 In der Theorie des Neorealismus ist durchaus umstritten, ob Staaten in erster Linie offensive (so vor allem Mearsheimer und Gilpin) oder defensive Positionalisten sind (so vor allem Waltz und Grieco). Allerdings kann es als allgemein akzeptiert gelten, daß ein Staat, der - ob durch eigenes Bestreben oder nicht - einen relativen Machtzuwachs zu verzeichnen hat, diese Macht auch zu seinen Gunsten einsetzen wird. Schließlich kommen Mearsheimer und Waltz in bezug auf Deutschland trotz dieser theoretischen Differenz zu den gleichen Prognosen.

15 Der Realismus mißt dem Konzept der politikfeldspezifischen Macht ("issue-specific power capabilities", vgl. Keohane/ Nye 1977: 30f., 53) keinen theoretischen Stellenwert zu. Daher wird das Problem, daß der deutsche Machtzuwachs sich in verschiedenen Politikfeldern unterschiedlich darstellen könnte, hier ausgeklammert. Die unterschiedlichen Machtkonzepte werden jedoch bei der Theorieprüfung wieder aufgegriffen.

16 Maull selbst setzt sich in seinem Aufsatz über die "Zivilmacht Bundesrepublik" klar von realistischen Grundannahmen ab (Maull 1992: 269f.).

17 Vgl. z.B. die Diskussion des "omitted variable bias" bei King/Keohane/Verba (1994: 168ff.).

18 Durch die Gegenüberstellung von Realismus einerseits und Institutionalismus und Liberalismus andererseits mögen weitere erklärende Variablen vernachlässigt werden, doch ist das Forschungsprojekt als Test der realistischen Theorie und ihrer Prognosen angelegt. Da die idealerweise geforderte Kontrolle aller potentiellen Einflußfaktoren nicht zu leisten und eine Auswahl von Kontrollvariablen unausweichlich ist, beschränken wir uns darauf, solche Variablen zu kontrollieren, die in den beiden wichtigsten mit dem Realismus konkurrierenden Theorien der internationalen Beziehungen (Institutionalismus und Liberalismus) eine hervorragend Rolle spielen.

19 Genauso plausibel könnte man allerdings auch sagen, daß der einflußtheoretische Realismus ein theoretisches Zugeständnis an den rationalistischen Institutionalismus darstellt. Da der kausale Nexus von Macht und Machtpolitik allerdings typisch realistisch ist, bleiben wir bei der hier vorgenommenen Zuordnung. Dies entspricht der Begrifflichkeit von Wendt (1992: 392), der die rationalistischen Institutionalisten als "weak realists" bezeichnet, und der älteren von Keohane (1986: 191), der seine eigene - institutionalistische - Theorie als "modified structural Realism" klassifiziert.

20 Zur Unterscheidung beider Institutionalismen vgl. z.B. Anderson/Goodman (1993); Keohane (1989: 170f.); Hasenclever/ Mayer/Rittberger (1996).

21 Diese "Feedback-Funktion" internationaler Institutionen wurde von Krasner schon 1983 thematisiert (361f.).

22 Während Lijphart (1975) von "comparative method" spricht, hat George (1979) für die Methode des kontrollierten Vergleichs den Begriff des "structured, focused comparison" eingeführt.

23 Aus diesem Grund wird z.B. die "Ostpolitik" der Bundesrepublik bei der Fallstudienauswahl ausgeklammert.

24 So schreibt z.B. Waltz: "[...] once the new Germany finds its feet, it will no more want to be constrained by the United States acting through NATO than by any other state" (Waltz 1993: 76).

25 Hierbei ist jedoch zu beachten, daß eine eigenständige Handelspolitik der EG-Mitgliedsstaaten ohne Abstimmung mit der EG/EU nicht möglich ist. Protektionistische Maßnahmen können also allenfalls in Form innenpolitischer Maßnahmen (Industriepolitik etc.) durchgeführt werden.

26 Es ist darauf zu achten, daß diejenigen Kontextbedingungen, die sich gewandelt haben (etwa das Hinzukommen neuer Empfängerländer im Zuge der Auflösung der Sowjetunion), in der Anlage der Fallstudie kontrolliert werden.

27 Innerhalb der Internationalen Finanzierungsinstitute würde sich eine Einflußsteigerung weitaus schwieriger gestalten. Sie könnte nur durch eine deutliche Erhöhung der deutschen Kapitalanteile, an die die nationalen Stimmrechte gebunden sind, erreicht werden.


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